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Seit ich Antidepressiva nehme, kann ich nicht mehr weinen

Foto: Leia Morrison.
Am Samstag bin ich den Tränen nah – zum ersten Mal seit Wochen. Ich spüre, wie sie in meinen Augenwinkeln lauern, während ich (ausgerechnet!) das erste Staffelfinale von Ugly Betty schaue. „Somewhere“ aus West Side Story wird immer lauter, als Bettys Schwester Hilda davon erfährt, dass ihr Verlobter Santos erschossen wurde. Sie bricht schluchzend auf dem Bildschirm zusammen, während ich mich komplett auf meine Tränendrüsen konzentriere. Ich weiß, dass ich das schaffe: Ich spüre, wie in mir die Gefühle hochkochen, wie immer in solchen melodramatischen Momenten. Meine Wangen und Augen scheinen anzuschwellen, und meine Stirn liegt in dramatischen Falten. Und dann, als Hildas Schluchzen durch den Schulflur hallt, merke ich, wie ich zwei Tränen aus jedem Auge blinzle. 
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Meine Frau hat von der dramatischen Performance auf dem Sofa neben ihr bisher überhaupt nichts mitbekommen. Erst, als ich begeistert eine Socke nach ihr werfe, dreht sie sich überrascht zu mir.
„Babe, guck! Ich hab’s geschafft. Ich weine!“
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Ich war schon immer nah am Wasser gebaut. Mir kamen bis vor Kurzem aus den absurdesten Gründen die Tränen – zum Beispiel bei einer absichtlich emotionalen Werbung für eine Bank mit einem queeren Pärchen; beim Anblick eines Welpen, der im Park über seine eigenen Pfoten stolpert; wenn ich meine Freund:innen nach weniger als einer Woche via Zoom sah. Ich bin der Traum jeder Werbeagentur. Meine Gefühle brodeln immer direkt unter der Oberfläche und können mich innerhalb von Sekunden überwältigen. Mir ist klar, wie albern es ist, sich so leicht beeinflussen zu lassen – vor allem von Medien, die genau auf Menschen wie mich abzielen –, aber das ist einfach ein großer Teil meiner Persönlichkeit. Mich bewegen selbst die harmlosesten Dinge zutiefst, und es ist befreiend, von einem Gefühl so berührt zu werden – ob nun von Freude, Wut oder Trauer. Meistens fühle ich mich danach irgendwie erfrischt.
In den letzten Jahren sind meine Tränen aber weniger harmlos. Als mich die Angst 2019 zum ersten Mal so richtig überkam (die sich später als Zwangsstörung herausstellte), begriff ich erst gar nicht, wieso ich solche Panik verspürte. Ich fürchtete mich immer mehr vor meinen eigenen Gedanken, Ängsten und Zweifeln, die mich regelmäßig in Tränen ausbrechen ließen. Das wurde immer schlimmer, bis ich fast täglich Panikattacken hatte. Gedanken, die mir irgendwann mal harmlos vorgekommen wären, lähmten mich plötzlich. Ich war in einer Angstspirale gefangen. Und selbst, wenn ich mich gerade im Griff hatte und auf dem schmalen Grat zwischen besessenen Gedanken und Normalität balancierte, fühlten sich meine Augen wie volle Fässer an, die nur einen Tropfen vorm Überlaufen standen. Vorher hatte ich viel gefühlt – jetzt fühlte ich zu viel. 
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Das Weinen hatte sich für mich von einer harmlosen Form des Gefühlsausdrucks in ein Symptom meiner Verzweiflung verwandelt. Es war überhaupt nicht mehr befreiend und half weder mir noch meinem Umfeld. Die Tränen standen außerdem für ein viel größeres Problem: meine Unfähigkeit, meine Gedanken von meinen Gefühlen zu trennen und zu erkennen, wie sich beides auf die Realität bezog. Ich weinte in jeder Therapiesitzung, wenn ich von meiner jüngsten Panikattacke erzählte. An manchen Tagen wachte ich schon völlig panisch auf und verbrachte den Großteil des Morgens damit, die Tränen gerade so zurückzuhalten. An anderen Tagen brach ich in einer Ecke meiner Wohnung zusammen und versuchte, mich irgendwie in den Griff zu bekommen, weil ich ja wusste, dass meine Furcht nichts mit der Realität zu tun hatte. Als wir noch im Büro arbeiteten, schlich ich mich zwischendurch aufs Klo, um mich zu beruhigen und die Beweise von meinen geröteten Wangen zu wischen. Im Homeoffice musste ich häufig Pausen einlegen, um meine Atemübungen zu machen und die fließenden Tränen irgendwie zu stoppen.
In fast jeder dieser Situationen war meine Unruhe eine Überreaktion. Dieses Muster aus besessenen Gedanken und ängstlicher Reaktion gehört aber nun mal zur Zwangsstörung dazu und war tief in meiner Psyche verankert. Es brauchte schon mehr als nur ein bisschen rationales Denken, um diesen schluchzenden Kreislauf zu durchbrechen.
Meine Tendenz zum Weinen war jetzt also direkt mit meiner Zwangsstörung verknüpft und übernahm die Kontrolle über jeden Aspekt meines Lebens. Mir kamen nicht mehr bloß bei emotionalen TV-Szenen die Tränen, sondern auch, wenn ich nur an bestimmte Leute dachte, mich an etwas erinnerte oder mir einfach irgendwas ausdachte. Mal konnte ich genau sagen, warum ich weinte – genauso oft wusste ich es aber selbst nicht. Und das erdrückte nicht nur mich selbst, sondern auch die Menschen, die ich liebe. Ich hatte keinen Platz für die Gefühle meines Umfelds und konnte auf nichts gelassen reagieren. Manchmal kam ich mir selbst so vor, als wolle ich mit meinen Tränen die Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Und obwohl das nie meine Absicht war, gebe ich doch zu, dass ich oft so sehr auf mich konzentriert war, dass ich anderen gar keine Beachtung schenken konnte.
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Während all dessen hatte ich aber gleichzeitig auch großes Glück. Ich hatte die finanzielle Unterstützung meiner Eltern, die es mir erlaubte, eine private Therapie anzufangen – was ich mir mit meinem eigenen Einkommen niemals hätte leisten können. Mit viel Mühe lernte ich in der Therapie, wie mein Gehirn funktioniert und wie ich es von seinen selbstzerstörerischsten Tendenzen lösen kann. Die Pausen zwischen meinen Panikattacken wurden immer länger. Irgendwann schluchzte ich nicht mehr täglich, nicht mehr wöchentlich, nicht mal mehr alle zwei Wochen – nach zweieinhalb Jahren brach ich kaum noch monatlich in Tränen aus. Trotzdem lauerten die Anfälle immer noch bedrohlich in meinem Hinterkopf, und mein Tränen-Fass war durchgehend bloß so kurz vorm Überlaufen. 
Ich arbeitete hart daran, gesund zu werden. Ich ging regelmäßig zur Therapie und machte jeden Tag die Übungen, die mir dort empfohlen wurden. Ich verzichtete komplett auf Alkohol, der zwanghafte Gedankenmuster verschlimmern kann, und fing an zu meditieren, was mich täglich dazu zwang, mich von meinen Gedanken zu lösen und nicht von ihnen einnehmen zu lassen. Im Laufe eines Jahres fand ich langsam wieder zu mir selbst zurück – doch ließen sich meine überwältigende Sensibilität und die schlimmsten Seiten meiner Zwangsstörung einfach nicht abschütteln. Meine Augen waren jederzeit dazu bereit, ihre Fluttore zu öffnen. In der Therapie erzählte ich, dass ich mich zwar besser fühlte, aber immer noch wahnsinnige Angst davor hatte, wieder unterzugehen. Ich hatte zwar eine große Hürde überwunden, war mir aber sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis mich die nächste Welle an Emotionen überrannte – ganz egal, wie hart ich an mir selbst arbeitete.
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Und genau deswegen griff ich schließlich zu Antidepressiva, rund zweieinhalb Jahre nach Beginn meiner Therapie.
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Antidepressiva sind immer stärker umstritten. Vor allem Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) werden in den letzten Jahren immer häufiger verschrieben. Laut Bundesgesundheitsministerium nahm die Anzahl der Verschreibungen zwischen 2010 und 2019 jährlich um über 400 Millionen Tagesdosen zu; 2019 waren es somit über 1.600 Milliarden Dosen. Die Mittel werden für eine ganze Reihe psychischer Probleme eingesetzt, allerdings hauptsächlich gegen Depressionen und Angststörungen.
Während die Zahlen der Verschreibungen nach oben schnellen, werden die Fragen nach ihrer Wirksamkeit zwangsläufig immer lauter. Eine Studie im Forschungsmagazin Drug and Therapeutics Bulletin sagt dazu ganz klar: „Viele Beweise ihrer Wirksamkeit stammen aus placebokontrollierten Kurzzeit-Studien, die meist keine der Auswirkungen berücksichtigen, die Patient:innen am wichtigsten sind – wie die soziale Funktionstüchtigkeit oder Lebensqualität –, sondern sich ausschließlich auf die Symptombewältigung [der Krankheit] beschränken. Hinsichtlich dieser Symptomen zeigen die Studien keine großen Unterschiede zum Einsatz von Placebos gegen Depressionen.“
Diese Fragen zur Wirksamkeit von Antidepressiva konzentrieren sich hauptsächlich auf ihre Verschreibung gegen Depressionen. Die typischen Nebenwirkungen dieser Mittel – zum Beispiel Übelkeit, Schlafprobleme, Gewichtszunahme und Sexualfunktionsstörungen – können stark ausfallen. Und da stellt sich dann die Frage: Wenn diese Medikamente nicht wirklich deine Stimmung verbessern, wie sollen sie dir dann wirklich helfen können?
Ich selbst leide aber nicht unter Depressionen, sondern einer Zwangsstörung – und mir haben diese Mittel enorm geholfen.
Wohingegen sich mein Gehirn vorher wie ein wütender Ball aus Stahlwolle anfühlte, wickelte Fluoxetin (der SSRI, der gegen Zwangsstörungen am häufigsten empfohlen wird) meine panischen, besessenen Gedanken in schützendes Gummi. Es war, als hätte mein Hirn mit einem Mal glitschige Handschuhe an und könne keine Gedanken mehr greifen, die vorher eine Panikreaktion ausgelöst hätten. Stattdessen rutschte der Gedanke einfach durch. Diese Kontrolle hatte ich vorher für unmöglich gehalten, fiel mir jetzt aber auf einmal total leicht – und als meine Dosis erhöht wurde, bekam ich plötzlich ein Gefühl der Normalität zurück, von dem ich gedacht hatte, es für immer verloren zu haben.
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Zur Wirksamkeit von Antidepressiva im Zusammenhang mit Zwangsstörungen wurde bisher deutlich weniger geforscht als zu Depressionen (vor allem, weil Letztere viel weiter verbreitet sind). Die Forschungsergebnisse, die es gibt, deuten aber darauf hin, dass „SSRI für Zwangsstörungen deutlich effektiver [seien] als Placebos, zumindest kurzfristig – trotz der Unterschiede zwischen verschiedenen SSRI-Medikamenten hinsichtlich negativer Nebenwirkungen“. Vor allem Fluoxetin sei „in der Behandlung von Zwangsstörungen effektiv und gut verträglich“. 
So weit, so gut. Diese Wirksamkeit geht aber mit einer Nebenwirkung einher, die ich noch nicht erwähnt habe: der emotionalen Abstumpfung.
Genau diese Nebenwirkung ist der Grund dafür, dass ich unter anderem auf einmal nicht mehr weinen konnte. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich kleine Schwämme in meinen Augenhöhlen, die meine Tränen aufsaugten, bevor sie überlaufen konnten. Diese emotionale Abstumpfung kann auch extremere Formen annehmen, die mir glücklicherweise erspart blieben: Manche Betroffenen können gar keine Emotionen mehr wirklich fühlen – ob nun Freude, Trauer oder Wut. Einige vermuten, das sei nicht ausschließlich eine Nebenwirkung der Antidepressiva, sondern ein Überbleibsel-Symptom der jeweiligen psychischen Erkrankung. (Das ist allerdings nur eine Hypothese.) Zur Wirksamkeit der SSRI gibt es nur wenige Studien, die sich mit der emotionalen Abstumpfung in Zwangsstörungs-Patient:innen befassen, obwohl einige kleine Studien durchaus ein „Syndrom der Gleichgültigkeit“ unter ihren mit Fluoxetin oder Fluvoxamin behandelten Teilnehmer:innen bestätigten. 
Für viele – inklusive mir – ist das der größte, langwierigste Preis, den mich meine Gesundheit kostet. Ist ein leichter zu bewältigender Alltag wirklich ein solches Gefühl der emotionalen Distanz wert? Was entgeht mir, weil ich weniger fühle? Es ist auf jeden Fall surreal, dass mir dieser sonst so frei sprudelnde Hahn plötzlich zugedreht wurde.
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Jede:r hat eine ganz eigene Beziehung zu solchen Medikamenten. Ich würde niemals behaupten, es würde anderen definitiv helfen, dasselbe zu tun oder einzunehmen wie ich. Ich hoffe selbst, dass ich diese Antidepressiva nur ein paar Jahre lang nehmen muss. Und trotzdem ist es eine unglaubliche Erleichterung, klar denken zu können und mich nicht von meinem eigenen Kopf belastet zu fühlen.
Ja, vielleicht kann ich ohne enorme Konzentration und die Musik von Leonard Bernstein nicht mehr einfach so drauflosheulen. Das ist ein Preis, den ich zahlen muss. Das Weinen gehörte – im Guten wie im Schlechten – bisher immer fest zu meiner Persönlichkeit und beeinflusste, wie ich mit der Welt um mich herum kommuniziere. Ich liebe es, tief zu fühlen, mich von einem Song rühren zu lassen oder zu schniefen, wenn ich ein Video davon sehe, wie ein taubes Kind plötzlich dank Cochlear-Implantat zum ersten Mal hören kann. Ich vermisse diese Freiheit, von meinen Emotionen überwältigt zu werden, ohne gleich Angst davor haben zu müssen, darunter zusammenzubrechen.
Wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, habe ich das aber nicht erst verloren, als ich Fluoxetin verschrieben bekam. Die Klarheit meiner Emotionen war schon vorher fort, als panische, unkontrollierte, pausen- und grundlose Schluchzer an die Stelle meiner befreienden Tränen traten.
Ich hoffe, dass ich diese Tränen eines Tages zurückbekomme. Für mich überwiegen aber – zumindest jetzt noch – die Vorteile der Antidepressiva. Vielleicht sind die Extreme meiner Emotionen gedämpft, aber ich empfinde immerhin endlich wieder Freude. Die Erleichterung, mich nicht mehr von meinen eigenen neurotischen Gedanken verfolgt zu fühlen, ist enorm. Eines Tages – wer weiß, wann genau – wird mir dieses Gefühl bestimmt auch nicht mehr fremd und surreal, sondern ganz normal vorkommen. Vielleicht kann ich dann auch wieder zu meiner absoluten emotionalen Fülle zurückkehren und vor Wut, Trauer, Verwirrung und Freude weinen. Und bis dahin lebe ich gerne in dieser merkwürdigen, leicht gedämpften Welt, in der ich trotz allem endlich wieder völlig klar sehen kann.

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