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Nach Roe v. Wade: Wie Abtreibungen in den USA heute aussehen

Foto: Sarah Silbiger/Bloomberg/Getty Images.
Der 24. Juni 2022 wird in die Geschichtsbücher eingehen – in Deutschland als der Tag, an dem die Abschaffung von Paragraf 219 beschlossen wurde, was es Ärzt:innen nun erlaubt, ausführliche Informationen über Abtreibungen öffentlich anzubieten. Und als der Tag, an dem der US-amerikanische Supreme Court beschloss, dass eine Entscheidung zur Abtreibung dortzulande doch kein persönliches Grundrecht sein sollte, zumindest nicht ohne enorme gesetzliche Einschränkungen. Zwei Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und während wir in Deutschland einen Sieg für die Freiheit von Frauen und Menschen mit Gebärmutter feierten, war die ganze Welt schockiert über die gleichzeitigen Entwicklungen in den USA.
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Die Mehrheit der Richter:innen des Supreme Court bestätigte den Sturz von Roe v. Wade, dem Gerichtsurteil von 1973, auf dessen Basis Abtreibungen in den Vereinigten Staaten im ersten Schwangerschaftstrimester uneingeschränkt, im zweiten Trimester unter gewissen Bedingungen möglich waren. Durch das Ende von Roe liegt die Rechtsgrundlage einer Abtreibung jetzt in den Händen der einzelnen Bundesstaaten – und mehr als die Hälfte von ihnen wird Abtreibungen mit großer Wahrscheinlichkeit effektiv verbieten oder zumindest stark einschränken.
Der Richter Samuel Alito verfasste die Mehrheitsmeinung des Supreme Court und schrieb darin: „Die Verfassung erteilt kein Recht zur Abtreibung. Roe [wird] aufgehoben, und die Befugnis zur Regelung des Abtreibungsrechts geht zurück an das Volk und seine gewählten Vertreter:innen.“ 
Die fünf anderen konservativen Richter:innen unterschrieben das Dokument. Dazu gehörte auch der Oberste Richter John Roberts, der während der Verhandlung noch den Eindruck erweckt hatte, er wolle Roe „nur“ auseinandernehmen, anstatt das Grundsatzurteil komplett zu kippen. 
Alle drei liberalen Richter:innen widersprachen dem Urteil. „Wie auch immer die daraus resultierenden Gesetze aussehen mögen“, schrieben sie, „eine Konsequenz der heutigen Entscheidung steht schon fest: die Beschränkung der Leben von Frauen und die Beeinträchtigung ihrer Position als freie und gleichberechtigte Bürgerinnen.“
„Die Mehrheit [der Richter:innen] würde es den einzelnen Staaten überlassen, die Abtreibung schon ab der Zeugung zu verbieten, weil sie nicht glaubt, eine erzwungene Entbindung könne sich auf die Rechte einer Frau auf Gleichberechtigung und Freiheit auswirken“, schrieben Stephen Breyer, Sonia Sotomayor und Elena Kagan weiter.
Seit die Entscheidung gefallen ist, ist das Entsetzen groß. Überall im Land gehen Menschen auf die Straße und protestieren; sie argumentieren, dass dieses Urteil ihnen ihre Rechte rauben, die Stigmatisierung von Abtreibungen verstärken und Leben verändern würde – und sie in manchen Fällen sogar beenden könne. „Dass sechs Mitglieder des Supreme Court, die selbst nie eine Abtreibung hatten, entscheiden dürfen, was für uns alle das Beste sei – uns, die selbst schon Abtreibungen hatten oder vielleicht mal eine brauchen werden –, ist eine Schande“, meint Renee Bracey Sherman, Leiterin der Wohltätigkeitsorganisation für Abtreibungen We Testify. „Sie werden nie unsere Namen kennen. Sie werden nie unsere Geschichten hören. Und trotzdem dürfen sie entscheiden, was für uns, unsere Familien und unsere Zukunft am besten sei.“
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Obwohl die Entscheidung für viele ein Schlag ins Gesicht war, kam sie nicht überraschend. Aktivist:innen und Expert:innen hatten das Urteil schon vorausgesagt, bevor im frühen Mai ein Entwurf davon an die Öffentlichkeit geriet. Dieser Entwurf warnte nicht nur davor, dass manche Staaten die Abtreibung ganz verbieten könnten (und das schon vom Moment der Zeugung an, was sich auf manche Formen der Verhütung, wie die „Pille Danach“, auswirken könnte), sondern deutete auch eventuelle Konsequenzen für andere Urteile auf Basis des 14. Zusatzartikels der US-Verfassung haben könnte – wie zum Beispiel zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen und Ehen oder zur Empfängnisverhütung. Dasselbe gilt für das endgültige Urteil, und der Supreme-Court-Richter Clarence Thomas sagte sogar spezifisch, er sei der Meinung, solche Gerichtsurteile sollten noch einmal überdacht werden.
Der geleakte Urteilsentwurf zitierte außerdem Sir Matthew Hale, einen englischen Juristen des 17. Jahrhunderts, der ausführlich über Gesetzgebung schrieb und dessen Arbeit Frauen und Menschen generell schon seit Jahrhunderten schadet, beispielsweise durch seine Skepsis gegenüber Vergewaltigungen und seine daraus resultierende Meinung, eine Person könne gar nicht von ihrem Ehepartner bzw. ihrer Ehepartnerin „vergewaltigt“ werden. Auch die Hexenprozesse von Salem lassen sich mitunter auf ihn zurückführen. Und ja: Auch im neuesten Roe-Urteil wird Hale weiterhin zitiert – ein Beweis dafür, wie sehr sich der Supreme Court auf historische, männliche Meinungen mit solchen Ansichten verlässt.
Abtreibung war nicht immer für jede:n frei zugänglich, war aber sehr wohl ein legales Recht. Dieses neue Urteil ändert das und wird katastrophale Konsequenzen haben, meinen Expert:innen. „Ich habe schon immer gesagt, dass Roe nur das absolute Minimum ist, nicht das Ideal – aber das Minimum brauchen wir eben auch“, sagte Marcella Howell, Präsidentin und CEO von In Our Own Voice, gegenüber Refinery29 schon vor dem Urteil. „Dieses Minimum hat der Supreme Court jetzt zerstört, und wir Frauen haben nur noch wenig, worauf wir uns hinsichtlich unserer Fortpflanzungsrechte stützen können.“
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Währenddessen ist der Sturz von Roe für viele Anti-Abtreibungs-Aktivist:innen natürlich Grund zu Feiern. Americans United for Life veröffentlichte ein Statement namens „A New Day at Last“ (z. Dt.: „Endlich ein neuer Tag“). 
Wir erleben gerade etwas, das viele für unvorstellbar gehalten hatten. Diese Entwicklungen werden für alle Amerikaner:innen ernsthafte gesundheitliche, wirtschaftliche und allgemeine Konsequenzen haben, vor allem aber für diejenigen, die es schon vorher schwer hatten, eine Abtreibung zu bekommen – Bewohner:innen ländlicher Gebieten, Menschen mit geringem Einkommen, Menschen of color, und Bewohner:innen von Staaten, in denen die Abtreibung nun verboten wird.
Aber was bedeutet der Sturz von Roe v. Wade denn genau für die Menschen in den Vereinigten Staaten? Das erklären wir dir hier – und auch, wie du helfen kannst.
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Wie schnell werden Abtreibungen jetzt verboten – vor allem in Staaten mit sogenannten „trigger laws“?

Das kommt tatsächlich auf den Bundesstaat an: 26 Staaten werden Abtreibungen jetzt sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit verbieten. Das betrifft laut der Wohltätigkeitsorganisation Planned Parenthood mehr als 36 Millionen fortpflanzungsfähige Menschen – und in manchen Fällen wird der Zugang zu Abtreibungen schnell oder sogar sofort beendet.
13 Bundesstaaten haben sogenannte „trigger laws“, die im Fall von Roes Ende sofort ausgelöst werden; dazu gehören unter anderem Kentucky, Louisiana und South Dakota. Idaho, Tennessee und Texas hingegen haben Gesetze, die das Inkrafttreten des Abtreibungsverbots um 30 Tage verzögern, sodass Schwangerschaftsabbrüche und bestehende Termine dafür noch einen Monat lang möglich sind (in Texas aber nur bis zur sechsten Schwangerschaftswoche). 
Andere Staaten mit trigger laws – wie Arkansas, Mississippi, Missouri, North Dakota, Utah und Wyoming – müssen vor dem Inkrafttreten erst noch von der Regierung bestätigt werden. „Die Generalbundesanwält:innen oder Gouverneur:innen müssen sich also erstmal die Entscheidung vom Supreme Court durchlesen und sagen: ‚Ja, Roe ist gekippt, also kann unser trigger law in Kraft treten“, erklärt Elizabeth Nash, politische Beraterin für Staatsangelegenheiten vom Guttmacher Institute. „Das kann ein paar Stunden dauern, vielleicht auch ein, zwei Tage. Viele Trigger-Verbote werden aber sehr schnell in Kraft treten – innerhalb von 24, 48 oder sogar null Stunden.“ Und tatsächlich wurden Abtreibungen in acht Staaten noch am selben Tag verboten.
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Dann gibt es noch Staaten wie Ohio und Georgia, die bereits vor dem Ende von Roe Abtreibungsverbote abgesegnet haben, die derzeit aber noch vor Gericht verhandelt werden und jetzt erstmal abgeschlossen werden müssten, bevor ein Verbot in Kraft treten kann. „Die Generalbundesanwält:innen müssten jetzt womöglich die Richter:innen auffordern, die Fälle wegen der Supreme-Court-Entscheidung fallen zu lassen oder das Verbot zu bestätigen“, erklärt Nash. Es ist ungewiss, wie lange das dauern würde; Nash rechnet aber mit ein paar Wochen bis hin zu ein, zwei Monaten.
Andere Staaten sagen jetzt, sie wollen spezielle Regierungssitzungen abhalten, um ein Verbot durchzusetzen, was allein aus logistischen Gründen länger dauern dürfte. Manche Staaten lassen zu, Gesetzesentwürfe sofort in Gesetze umzuwandeln; andere erfordern 90-tägige Wartezeiten. „Der Punkt ist: Nach dieser Entscheidung wird schnell viel passieren. Obwohl nicht alles sofort eintritt – es ist nicht so, als dürften alle Kliniken sofort keine Abtreibungen mehr durchführen –, passiert jetzt vieles phasenweise. Wir reden hier aber nicht von Jahren, sondern von Stunden, Tagen, Wochen, ein paar Monaten“, betont Nash.
Natürlich wird es aber auch weiterhin Staaten geben, die Abtreibungen zulassen. „Gesundheitszentren von Planned Parenthood werden weiterhin sichere, legale Abbrüche durchführen, wo wir gesetzlich dazu berechtigt sind“, sagt die Organisation gegenüber Refinery29. Viele warnen jetzt aber davor, dass diese Kliniken nun von Anfragen sowohl von innerhalb als auch außerhalb der jeweiligen Bundesstaaten überrannt werden dürften. Und eines ist sicher: Viele Menschen werden gar keine Schwangerschaftsabbrüche mehr bekommen können.

Aber was ist mit selbst durchgeführten Abtreibungen?

Schwangerschaftsabbrüche via Abtreibungspille sind in den USA auch rezeptfrei möglich (in Deutschland übrigens nicht; hier ist die Abtreibungspille nur bei Frauenärzt:innen oder in Krankenhäusern erhältlich). Dabei wird die Pille typischerweise online bestellt – und diese Form der Abtreibung könnte nach dem Ende von Roe eine Art gesetzliche Grauzone sein.
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Obwohl viele Staaten womöglich komplette „Abtreibungsverbote“ durchsetzen dürften (oder es bereits getan haben), geht es in diesen Verboten spezifisch um Kliniken und andere Abtreibungs-Dienstleister:innen, nicht aber um die tatsächlichen Betroffenen, erklärt Elisa Wells, Mitbegründerin von Plan C, einem Anbieter von Abtreibungspillen. Manche halten die selbst durchgeführte Abtreibung daher für rechtlich umstritten, nicht aber für verboten – zumindest außerhalb der drei Bundesstaaten, die spezifische Gesetze gegen die selbst durchgeführte Abtreibung haben: Oklahoma, South Carolina und Nevada. 
„Wir rechnen damit, dass das Ende von Roe und das Inkrafttreten von Trigger-Gesetzen in vielen Staaten für riesige Verwirrung und Angst darüber sorgen wird, was noch erlaubt ist und was nicht“, meint Wells. „Das wird vermutlich dazu führen, dass medizinisches Personal und die Polizei fälschlicherweise Menschen anzeigen werden, die ihre Abtreibung selbst durchgeführt haben, ohne dabei genau genommen gegen Gesetze zu verstoßen. Das ist ein Verstoß gegen die Privatsphäre der Patient:innen und sollte nicht passieren – obwohl wir wissen, dass es dazu schon gekommen ist. Niemand sollte dafür kriminalisiert werden, die eigene Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen.“
Foto: Drew Angerer/Getty Images.

Wird sich der Fall von Roe v. Wade auch auf die Verhütung auswirken?

Obwohl die meisten Amerikaner:innen den freien Zugang zu Verhütungsmethoden befürworten, könnte das Ende von Roe die freie Verfügbarkeit von Notfallverhütung und der Spirale einschränken, und im schlimmsten Fall sogar die anderer Verhütungsmethoden. Manche Gesetze – wie in Oklahoma – verbieten spezifisch die Abtreibung schon ab dem „Zeitpunkt der Befruchtung“, erklärt Rachel Fey, Vizepräsidentin für strategische Partnerschaften bei Power To Decide, einer Organisation, die ungeplante Schwangerschaften verhindern möchte. Dabei beginnt eine Schwangerschaft genau genommen nicht bei der Befruchtung einer Eizelle; laut der medizinischen Definition einer Schwangerschaft muss sich diese befruchtete Eizelle dann noch in der Gebärmutter einnisten, und viele befruchtete Eizellen tun das gar nicht erst. Noch dazu ist es fast unmöglich, den genauen Moment des Aufeinandertreffens von Eizelle und Samen medizinisch zu bestimmen. Dennoch lässt die medizinisch ungenaue Wortwahl in diesen Gesetzen womöglich genug Freiraum, um diese Verhütungsmethoden zu verbieten (und könnte sich auch auf Behandlungen wie die künstliche Befruchtung auswirken).
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„Dahinter steckt eine große Debatte: Wann beginnt das Leben?“, meint Fey. „Da prallen religiöse Überzeugungen auf die medizinische Definition einer Schwangerschaft. Obwohl sich dieser Streit nur schwer gewinnen lässt, sollten wir nicht auf religiöse, sondern auf medizinische Definitionen setzen.“
Auch darauf gingen die Supreme-Court-Richter:innen ein, die sich gegen das Ende von Roe aussprachen. „[Die Mehrheitsmeinung] besagt, eine Frau habe schon ab dem Zeitpunkt der Befruchtung keine Rechte mehr. Ein Staat kann sie dazu zwingen, ein Kind auszutragen – selbst auf enorme persönliche und familiäre Kosten.“
Ein eingeschränkter Zugang zu Abtreibungen gewährt den Menschen weniger Wahlfreiheit und raubt ihnen womöglich eine Option, die sie brauchen oder die für sie am besten wäre. Gleichzeitig verschlimmert er die Situation der Millionen von Menschen, die bereits im „verhütungstechnischen Niemandsland“ wohnen und keinen Zugang zu der Verhütung haben, die sie bräuchten. 

Welche anderen Rechte gefährdet das Ende von Roe v. Wade?

Das Urteil hat enorme Konsequenzen für den 14. Zusatzartikel der US-Verfassung, der das Recht auf Privatsphäre schützt – ein Recht, das auch in Urteilen zum Schutz der gleichgeschlechtlichen Ehe und zum Anrecht auf Verhütung eine Rolle spielt. Auch diese Punkte stehen nicht in der Verfassung (worauf Alitos Argumentation für das Ende von Roe zum großen Teil aufbaute). „All diese fußen auf einem Recht zur Privatsphäre. Wenn wir jetzt aber einen dieser Fälle ins Wanken bringen, riskieren wir dadurch, auch alle anderen zu Fall zu bringen“, warnt Fey.

Was kann ich tun, um Betroffenen zu helfen?

Aus der Ferne kannst du vor allem eins tun, um zu helfen: Geld spenden – beispielsweise an wohltätige Organisationen wie Planned Parenthood oder einen sogenannten „abortion fund“, der Schwangeren finanziell aushilft, um ihnen eine Abtreibung zu ermöglichen. Das National Network of Abortion Funds nimmt dazu Spenden entgegen. 
Foto: Sarah Silbiger/Bloomberg/Getty Images.
Obwohl der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland immer leichter zugänglich ist und die Abschaffung von Paragraf 219a ein großer Fortschritt war, haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Fakt ist nämlich: Abtreibungen sind bis heute enorm stigmatisiert. Daher sprich offen über das Thema. Teile vielleicht auch deine eigenen Erfahrungen mit dem Eingriff. Und vor allem: Verurteile niemanden für eine Abtreibung. 

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